Eine Sprache sprechen und doch zweisprachig sein

Das Forscherteam um Lara Pierce von der Universität von Washington in Seattle hat untersucht, ob Erlebnisse in unseren ersten Lebensjahren langfristige Spuren im Gehirn hinterlassen. Dabei ging es der Wissenschaftlerin insbesondere um die Auswirkung von Sprache.
Für die Studie wurden Kinder chinesischer Abstammung im Alter zwischen 9 und 17 Jahren untersucht, die mit durchschnittlich 12,8 Monaten von französischen, einsprachigen Familien adoptiert wurden. Die Kinder hatten seit der Adoption die chinesische Sprache nicht wieder gehört und hatten keine bewussten Erinnerungen an diese Sprache. Für den Versuch spielten die Wissenschaftler den Kindern chinesische Laute vor und machten gleichzeitig Aufnahmen vom Gehirn. Diese Bilder wurden anschließend mit den Bildern von einsprachigen (französisch) und zweisprachigen Personen (französisch und chinesisch) verglichen.
Obwohl die Kinder kein Chinesisch sprechen und kein Chinesisch verstehen, wurden dieselben Gehirnregionen aktiviert, wie bei zweisprachigen Personen, die sowohl fließend chinesisch und als auch französisch sprechen. Die bei den Kindern aktivierten Gehirnregionen unterscheiden sich hingegen von den Regionen, die bei den Personen aktiviert werden, die ebenfalls einsprachig sind und nur französisch sprechen.
Die Sprache, die wir in den ersten Jahren nach der Geburt hören, hat demnach über viele Jahre hinweg eine beachtliche Auswirkung auf neuronale Abläufe. Möglicherweise hält dieser Effekt ein ganzes Leben lang an. Dieses Phänomen lässt sich wahrscheinlich auch auf jede andere Kompetenz übertragen, die frühzeitig erworben und wieder vergessen wurde. Ganz allgemein stellt sich die Frage nach dem unbewussten Einfluss, den Erlebnisse aus den ersten Lebensjahren auf die weitere Entwicklung haben könnten.
Quelle: Pierce LJ, Klein D, Chen JK, Delcenserie A, Genesee F. (2014) Mapping the unconscious maintenance of a lost first language. Proc Natl Acad Sci U S A. 2014 Nov 17. pii: 201409411.