Können Sie der Versuchung widerstehen?

Wirtschaftswissenschaftliche Theorien zeigen, dass wir jeder Option, die uns in Aussicht gestellt wird, einen Wert zuweisen, damit wir uns letztendlich für eine der Optionen entscheiden können. Neurowissenschaftliche Studien lassen vermuten, dass die bei der Bildung von Erinnerungen beteiligten Hirnregionen, z. B. der Hippocampus, auch am Vorstellungsvermögen neuer Situatiuonen beteiligt sind. Forscher um Mathias Pessiglione vom Institut du Cerveau et de la Moelle Épinière in Frankreich sind daher von folgender Hypothese ausgegangen: Der Hippocampus könnte eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung von Ergebnissen spielen, bei denen unsere Vorstellungskraft gefragt ist. Anders gesagt, der Hippocampus ist mitverantwortlich dafür, wie sehr wir einer Versuchung widerstehen können. Dies ist üblicherweise bei sogenannten intertemporalen Entscheidungen der Fall, d. h., wenn wir uns zwischen einer kleinen aber sofortigen Belohnung oder einer großen späteren Belohnung entscheiden müssen. Bisherige Studien haben bereits gezeigt, dass geduldige Menschen eine höhere Aktivität im dorsolateralen Präfrontalkortex aufweisen, d. h. in der Region, die an der Verhaltenskontrolle beteiligt ist. Die Idee hinter der Studie von Mathias Pessiglione war es, die verschiedenen Optionen auf unterschiedliche Arten zu präsentieren, sodass entweder die Sinneswahrnehmung oder die geistige Vorstellungskraft gefragt war.
Bei der Untersuchung mussten sich die 20 Probanden zwischen einer als Foto präsentierten konkreten, sofortigen Belohnung (Mahlzeit, kulturelle oder sportliche Aktivität) oder einer in Textform präsentierten abstrakten, späteren Belohnung entscheiden. Mittels funktioneller MRT-Aufnahmen wurde die Gehinaktivität sichtbar gemacht, während die Teilnehmer auf bestimmte Fragen antworteten, z. B.: „Sie können entweder jetzt eine Tüte Chips bekommen oder in einem Monat zu einem Restaurantbesuch eingeladen werden. Wofür entscheiden Sie sich?“
Die Ergebnisse zeigen, dass im Moment der Entscheidung für eine der Optionen die Aktivität des Hippocampus bei den Teilnehmern höher war, die sich für die spätere Belohnung entschieden.
Im zweiten Schritt der Untersuchung wurde der Test auf Alzheimerpatienten ausgeweitet, da sich diese Erkrankung durch eine Schrumpfung des Hippocampus auszeichnet. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Patienten dazu neigen, sich für die sofortige Belohnung zu entscheiden. Für die Forscher lässt sich dieses Verhalten möglicherweise darauf zurückführen, dass sich Alzheimerpatienten aufgrund der krankheitsbedingten Veränderungen des Hippocampus die spätere Belohnung nur schwer vorstellen können.
Das Vermögen, sich eine spätere Belohnung vorstellen zu können, wäre demnach eine Motivationsquelle, die erklärt, warum manche von uns einer Versuchung besser widerstehen können.
Quelle: Maël Lebreton et al. A Critical Role for the Hippocampus in the Valuation of Imagined Outcomes. PLoS Biol. October 22, 2013 doi: 10.1371/journal.pbio.100168