Wie können 30 kleine Nervenzellen Schmerzen lindern?

Bereits seit Jahren geht man von der Annahme aus, dass kleine Untergruppen von Neuronen mit ganz speziellen Aufgaben im Oxytocin-produzierenden Zentrum vorhanden sind, ohne dass diese jedoch bisher entschlüsselt worden sind. Inzwischen hat ein internationales Forscherteam unter der gemeinsamen Koordination von Alexandre Charlet in Frankreich, tätig am Institut des neurosciences cellulaires et intégratives (CNRS/Universität Straßburg) und Valery Grinevich in Deutschland ein Schmerz-Kontrollzentrum entdeckt, in dem rund 30 Nervenzellen sitzen, die für die Oxytocin-Produktion zuständig sind und dafür sorgen, dass es zur Schmerzlinderung ins Blut und Rückenmark gelangt. Auf diese Weise konnte der Mechanismus dieses Moleküls untersucht werden, wonach bei akuten Schmerzen oder Entzündungen das Neuropeptid ausgeschüttet wird. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht.
Um die Interaktion zwischen dem Oxytocin-produzierenden Zentrum und den verschiedenen Zielorten besser zu verstehen, wollten die Neurobiologen diese verorten. Hierzu haben sie zunächst an einer Ratte die Neuroanatomie des Oxytocin-produzierenden Zentrums (die der des Menschen sehr ähnlich ist) untersucht. Die Wissenschaftler konnten so feststellen, dass im paraventrikulären Nukleus etwa 30 kleinzellige Oxytocin-Neuronen auf der einen Seite mit großzelligen Oxytocin-Neuronen aus einer anderen Region des Hypothalamus verknüpft sind und auf der anderen Seiten mit langen Ausläufern bis in tiefe Schichten des Rückenmarks reichen. Welcher Mechanismus wird nun bei akutem Schmerz (Verbrennung, Stechen, Schnitt, etc.) ausgelöst?
In den tiefen Schichten des Rückenmarks wird die Schmerzwahrnehmung der betroffenen Zellen an andere Nervenzellen weitergeleitet, darunter auch das Oxytocin-produzierende Zentrum, in welchem die 30 Neuronen sitzen. Diese aktivieren die großzelligen („magnozellulären“) Neuronen, die das Oxytocin über die Blutbahn in periphere Nervenzellen einspeisen, welche wiederum die für die Schmerzwahrnehmung zuständige Botschaft an das Gehirn weiterleiten. Das Oxytocin „schläfert“ diese ein und bewirkt somit eine Linderung des Schmerzempfindens. Dank ihrer Verlängerung, dem so genannten Axon (das bis zu einem Meter lang sein kann!), das bis in tiefe Schichten des Rückenmarks reicht, schütten die 30 Neuronen das Oxytocin exakt an dieser Stelle aus.
Die 30 kleinen Nervenzellen (der etwa 90 Milliarden im menschlichen Gehirn!) sind also gleich doppelt wirksam gegen Schmerz, weil sie die Weiterleitung des Schmerzempfindens an das Gehirn dämpfen.
Alexandre Charlet, einer der Co-Autoren dieser Studie, erhofft sich „genetische Marker zu finden, die in der Lage sind, diese 30 Neuronen auf spezielle Weise zu aktivieren oder zu deaktivieren, um die Symptome eines Schmerzpatienten gezielter lindern und zugleich die Nebenwirkungen eingrenzen zu können.“ Die Wissenschaftler setzen die Erforschung des Oxytocin-produzierenden Zentrums fort, um die emotionsmodulierenden Umstände zu erkennen und die Rolle von Oxytocin bei verschiedenen Verhaltensweisen wie Orgasmus, soziale Anerkennung, Empathie, Angstzustände usw. genauer zu bestimmen.
Quelle: Alexandre Charlet, Valery Grinevich et al. A new population of parvocellular oxytocin neurons controlling magnocellular neuron activity and inflammatory pain processing, in Neuron, 3. März 2016.